Schüleraustausch trotz psychischer Probleme?
Almaz
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, Interview, Vorbereitung, Austauschorganisationen |
Erwachsen werden ist nicht immer eine leichte Sache. Daher sind Jugendliche besonders gefährdet, an psychischen Gesundheitsstörungen wie Depression, Ess- oder Angststörungen zu erkranken. In den letzten Jahren ist diese Zahl auch noch deutlich gestiegen. Laut Arztreport der Barmer Krankenkasse benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe. Das sind 104 Prozent mehr als in 2009.
Viele Schülerinnen und Schüler träumen von einem Auslandsjahr. Was heißt das für dich, wenn du in psychotherapeutischer Behandlung warst oder bist? Ist ein Schüleraustausch in dieser Situation überhaupt möglich und sinnvoll? Fakt ist: Ein Schüleraustausch ist eine prägende und intensive Erfahrung, kann aber auch eine psychische Belastung sein. Viele Austauschschüler erleben in ihrem Auslandsjahr eine Achterbahn der Gefühle. Die Gefahr eines Rückfalls ist dadurch recht groß und muss in die Abwägungen einbezogen werden. Ein Schüleraustausch kann aber auch deine Persönlichkeit stärken, dich selbstständiger und reifer machen und somit helfen, dich langfristig zu stabilisieren.
Ganz wichtig ist: Wenn du einen Austausch machen möchtest, solltest du eine Vorerkrankung auf keinen Fall verschweigen. Viele Organisationen haben feste Regeln und auch viel Erfahrung im Umgang mit psychischen Problemen. Sie werden mit dir und deinen Eltern im Gespräch die Vor- und Nachteile eines Schüleraustausches in deiner Situation abwägen und dich entsprechend beraten. Denn neben praktischen Erfordernissen wie zum Beispiel bei der Auslandskrankenversicherung geht es auch darum, dich im Zielland optimal zu unterstützen und die besten Bedingungen für dich zu schaffen.
Wir haben Victoria Schnur, Austauschreferentin bei Partnership International e.V. und Eva Hofmann, Ehrenamtsmanagerin bei Experiment e.V. ein paar Fragen gestellt, wie ihre Organisationen mit Jugendlichen umgeht, die psychische Vorerkrankungen haben.
1. Ist ein Schüleraustausch für Jugendliche mit psychischen Problemen empfehlenswert?
Vicoria: Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Es ist vor allem wichtig interessierten Schülern und deren Eltern deutlich zu machen, welche Herausforderungen ein Austauschprogramm birgt. Es ist Teil des Programms durch verschiedene emotionale Belastungssituationen zu gehen - vom „Honeymoon“ bis in das zuweilen tiefe Tal des Kulturschocks. Wenn diese Situationen Krisen triggern, dann ist eine Teilnahme nicht empfehlenswert - auch im Hinblick auf das, was Gastfamilien in diesem Programm leisten. Gut medikamentös eingestellte oder austherapierte Schüler können aber durchaus an einem Austauschprogramm teilnehmen.
Eva: Jein bzw. es kommt darauf an. Grundsätzlich sollte hierzu mit der*dem behandelnden Psychotherapeut*in Rücksprache gehalten werden, ob eine Austauschzeit zum geplanten Zeitpunkt sinnvoll ist oder lieber zu einem späteren Zeitpunkt angegangen werden sollte. Während eines Schüleraustausches wird man mit vielen neuen Dingen konfrontiert, einer anderen Alltagssprache, anderen Familienregeln, anderen Traditionen, anderem Essen. Das alles sind tolle und bereichernde Erfahrungen, an denen die Teilnehmenden wachsen, gleichzeitig können sie auch (positiven) Stress auslösen. Je nachdem wie die psychische Verfassung zum jeweiligen Zeitpunkt ist, können diese Herausforderungen auch überfordern und die (psychische) Gesundheit der*des Teilnehmenden schaden. Daher sollte ein ehrliches und offenes Gespräch mit der behandelnden Person geführt werden.
Wenn wir ein Gutachten haben, dass bestätigt, dass ein Schüleraustausch zum geplanten Zeitpunkt unbedenklich ist und nicht die Gesundheit unserer Teilnehmenden gefährdet, steht dem von unserer Seite nichts im Wege. Wir müssen jedoch zusätzlich die jeweiligen Bestimmungen der gewünschten Länder beachten, da es international Unterschiede gibt, wie bestimmte psychische Probleme bewertet werden.
Wir möchten aber auch darauf hinweisen, dass es mit solchen Einschränkungen manchmal schwerer ist, Gastfamilien zu finden, die sich eine Aufnahme zutrauen.
2. Können Jugendliche, die eine Therapie wahrnehmen trotzdem an einem Schüleraustausch teilnehmen?
Victoria: Es ist nicht ratsam, eine akut stattfindenden Therapie für ein Austauschprogramm zu unterbrechen. Wir empfehlen, dass die Therapie mind. 2 Jahre vor Programmstart erfolgreich abgeschlossen wurde.
Eva: Es gibt viele unterschiedlich Gründe für eine Therapie. Manche können problemlos unterbrochen oder sogar frühzeitig beendet werden andere sollten nicht unterbrochen werden, um den Erfolg der Therapie nicht zu gefährden. Daher gilt auch hier die Empfehlung das direkte Gespräch mit der behandelnden Person zu suchen. Wird ein Gutachten für die Unbedenklichkeit eines Schüleraustauschs zum geplanten Zeitpunkt ausgestellt, steht dem nichts im Wege. Auch hier kann es jedoch Einschränkungen bei der Länderwahl geben, da dies nicht überall gleich gehandhabt wird.
3. Können Jugendliche, die zuletzt in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, an einem Schüleraustausch teilnehmen?
Victoria: Wir empfehlen, dass die Therapie - egal ob ambulant oder stationär - mind. 2 Jahre vor Programmstart erfolgreich abgeschlossen wurde.
Eva: Ist eine Behandlung erfolgreich abgeschlossen, ist dies möglich. Dennoch empfehlen wir dies zusätzlich abzuklären und bestätigen zu lassen.
4. Welche Hilfestellungen und Möglichkeiten seitens der Organisationen gibt es in dem Gastland für Austauschschüler, die während ihres Austausches mit psychischen Problemen zu tun haben?
Victoria: Die Versicherung von PI deckt psychologische Erstkonsultationen bis zu einem bestimmten Betrag ab. Vorerkrankungen und die damit beispielsweise verbundenen Kontrolltermine oder Medikamente sind nicht mit versichert und müssen von den Familien selbst getragen werden. Wenn eine psychische Erkrankung vorab bekannt war, bemüht sich PI mit den internationalen Partnern ein entsprechendes Netzwerk im Gastland sicherzustellen, um z.B. sicherzustellen, dass notwendige Arztbesuche durchgeführt werden können. Die Möglichkeit einer längerfristigen Behandlung von neu und akut auftretenden psychischen Problemen wird immer individuell betrachtet. Hier wird aber in der Regel empfohlen, diese Behandlung im Heimatland und in der eigenen Muttersprache durchzuführen.
Eva: Das Wichtigste ist ehrlich und offen gegenüber der Austauschorganisation bezüglich psychischer Probleme zu sein. Wir möchten die Gesundheit unserer Teilnehmenden nicht in Gefahr bringen und können nur für die bestmöglichen Rahmenbedingungen sorgen, wenn wir alle wichtigen Informationen haben.
Alle Organisationen im Gastland verfügen über „Local Coordinator“ zusätzlich zur Gastfamilie, Ansprechpartner*innen zu diesem Thema der Organisation vor Ort und für dringende Fälle eine 24 Stunden Notfalltelefonnummer.
Daneben steht auch die entsendende Organisation mit Ansprechpersonen zu diesem Thema, einer 24-Stunden-Notfallnummer sowie einem Netzwerk an Expert*innen zu diversen Herausforderungen allen Teilnehmenden zur Seite. So haben wir bei Experiment e.V. ein eigenes Health and Safety Team, das speziell ausgebildet ist und unsere Kolleg*innen und Teilnehmenden in schwierigen Situationen berät und unterstützt.
Je nach Gastland werden psychischer Probleme unterschiedlich bewertet und es gibt unterschiedliche Anlaufstellen und Möglichkeiten der Betreuung. So gibt es z.B. in den USA an fast allen Schulen, Vertrauenspersonen für alle Schüler*innen inklusive der Austauschschüler*innen.
Danke für das Gespräch!