Geschichte des Schülerinnen- und Schüleraustauschs in Deutschland
von Dr. Michael Weichbrodt.
Die ersten Formen von kulturellem Austausch, internationalen Jugendlagern und ähnlichen Formaten fanden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, etwa bei den Pfadfindern und ähnlichen Organisationen. Auch der internationale Briefwechsel wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem unter Fremdsprachenlehrenden stark propagiert. Die Vorstellung von Internationalität ist hierbei im Zusammenhang mit der Entstehung des Völkerbunds sowie der Kunstsprache Esperanto zu sehen (vgl. Krüger-Potratz 1996).
Aber auch der Austausch von Schülerinnen und Schülern im eigentlichen Sinne wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg praktiziert. Das „Berliner Komitee für den internationalen Schüleraustausch“ entsandte laut seinem Jahresbericht in den Jahren 1910-1912 125 Schüler (ob auch weibliche Teilnehmende darunter waren, ist nicht bekannt) nach England und Frankreich (Berliner Komitee 1912, S. 6). Interessant ist hier auch der Hinweis, mehrmonatige Aufenthalte würden noch zu wenig genutzt (ebd. S. 7). Das bedeutet, dass bereits vor 100 Jahren mehrmonatige Programme existierten. Daneben gibt das Dokument Hinweise auf die soziale Zusammensetzung der 54 Austauschschüler das Jahres 1912 bzw. ihrer Familien, da der Beruf des Vaters angegeben ist. Alle angegebenen Berufe weisen auf einen hohen sozialen Status hin (Lehrer, Beamte, Professoren, Ärzte, Pastoren, Kaufleute). Besonders interessant ist hierbei, dass Kaufleute (26 Nennungen) die größte Gruppe und fast die Hälfte der Austauschschüler stellen (ebd. S. 6). Damals schien also der Austauschgedanke insbesondere im Handel verwurzelt zu sein. Diese Branche war schon aus wirtschaftlichem Interesse auf internationale Kontakte und Sprachkenntnisse angewiesen und daher von jeher stark transnational vernetzt.
Später entstand die Motivation zu solchen Austauschprogrammen in der Regel aus dem Wunsch nach einem intensiveren Austausch zwischen zwei Staaten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist bspw. die Entstehung des Deutsch-Französischen Jugendwerks im Jahr 1963 (DFJW 2013). Deutlich weniger bekannt, aber umso interessanter ist die Tatsache, dass es auch zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Polen in den Jahren von 1935-37 Jugendaustausch gab. Dieser fand im Rahmen von Begegnungen zwischen polnischen Pfadfindern und der deutschen Hitlerjugend statt. Der politische Hintergrund war hier die vorübergehende Annäherung Deutschlands an Polen nach Unterzeichnung der Nichtangriffserklärung. Dieses Kuriosum der Geschichte macht deutlich, dass Jugendaustausch keine „politikfreie Zone“ ist, sondern unterschiedlichen politischen Interessen untergeordnet werden kann. (vgl. Gierlak 2001)
Darüber hinaus gab es in der Zwischenkriegszeit auch die ersten Programme einiger bis heute tätiger Organisationen, so etwa Experiment e.V. (vgl. Experiment e.V. 2013, Wallace 1980) oder AFS Interkulturelle Begegnungen e.V. (AFS 2008, S. 34). Diese frühen Austauschprogramme waren allerdings Kurzzeitformate oder eher für Gruppen bzw. Studierende ausgelegt. Das erste individuelle Langzeitaustauschprogramm für Schülerinnen und Schüler wurde im Jahr 1948 vom American Field Service durchgeführt, einer ehemaligen Organisation freiwilliger Sanitäter und Krankenwagenfahrer im Ersten und Zweiten Weltkrieg (AFS 2008, S. 34). Schon 1951 kam das Programm der amerikanischen Hohen Kommission in Deutschland hinzu, das deutsche Jugendliche im Rahmen von Demokratisierung und „Umerziehungsmaßnahmen“ für ein Jahr in die USA entsandte. Guenther (1975) fasst die Ausrichtung dieses Programms in den Nachkriegsjahren prägnant zusammen: “The purpose of the exchange experience is not so much to provide a different education for the foreign youths, but to provide the practical experience of the reality of American freedom and democracy” (ebd. S. 15) Aus den Rückkehrenden formierte sich einige Jahre später das Deutsche Youth for Understanding Komitee (YFU 2013a). Der Rotary Jugenddienst Deutschland begann 1960 mit einer kleinen Anzahl Austauschschülerinnen und -schülern auf Gegenseitigkeit. Für alle drei Anbieter standen Völkerverständigung und interkulturelles Lernen von Anfang an im Fokus ihrer Arbeit.
Diese blieben die einzigen Organisationen mit Langzeitprogrammen bis etwa 1970, damals mit einer Gesamtzahl von 500 Teilnehmenden (vgl. Abb. 1). In den 70er Jahren kamen weitere, zunächst noch kleine, ehrenamtlich organisierte Austauschvereine hinzu. Ende der 70er hatte sich die Anzahl der entsandten Schülerinnen und Schüler bereits verdoppelt, vor allem durch das Wachstum von AFS und YFU. In den 80er Jahren gab es mit der Gründung einer ganzen Reihe von Anbietern eine neuartige Entwicklung, denn erstmalig waren jetzt auch privatwirtschaftlich organisierte Firmen im Schüleraustausch tätig. 1990 entsandten 24 An-bieter bereits etwa 3400 Teilnehmende. In den 90er Jahren fand auch eine Diversifizierung der möglichen Gastländer statt, immer mehr Länder wurden neben den USA angeboten. Der Fokus lag dabei auf anderen englischsprachigen Ländern (Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland) sowie Westeuropa und Lateinamerika. Einzelne Anbieter haben aber nach 1990 auch vermehrt osteuropäische und asiatische Länder ins Programm aufgenommen.
Die Teilnahmezahlen wuchsen in den 90er Jahren stark an. Im Jahr 2001 gab es einen Peak mit knapp 14.000, die von nunmehr über 40 Organisationen entsandt wurden. Danach gab es einen leichten Einbruch, der wohl vor allem durch einen Rückgang in den USA zustande kam. Es ist zu vermuten, dass dies unter anderem auf die Geschehnisse des 11. September 2001 zurückzuführen ist. Interessant ist die Tatsache, dass die Zahlen in den USA – 2001 waren es etwa 11.000 – seitdem nie wieder diesen Stand erreicht haben (2011 etwa 9.500). Dafür haben insbesondere die anderen englischsprachigen Länder deutlich hinzu gewonnen. So war es im Jahr 2011 zum ersten Mal der Fall, dass insgesamt mehr Schülerinnen und Schüler in andere Länder gingen als in die USA, so dass die USA also nicht mehr die absolute, sondern nur noch die relative Mehrheit der Teilnehmenden aufnehmen.
Anders stellt sich die Seite der Aufnahmeprogramme dar. Von Anfang an wurden deutlich weniger Jugendliche in Deutschland aufgenommen als entsendet. Im Jahr 2011 waren es insgesamt etwa 3.000. Viele Organisationen führen keine Hosting-Programme durch, bei den anderen sind sie in der Regel zahlenmäßig deutlich kleiner als die Sending-Programme.
In den Jahren seit 2011 stehen viele Organisationen vor den Herausforderungen des demographischen Wandels (kleinere Jahrgänge), der Umstellung vieler Bundesländer auf G8 (Erschwerung der Anerkennung des Auslandsjahrs) sowie bei der Gastfamilienfindung. Dadurch sind leicht rückläufige Teilnahmezahlen zu verzeichnen (weltweiser 2017, S. 8). Allerdings hat sich das Spektrum der Organisationen weiter diversifiziert, zum Beispiel durch mehr mittelfristige Programme von wenigen Monaten, aber auch durch Aktivitäten in anderen gesellschaftlichen Bereichen (bspw. Arbeit mit geflüchteten Menschen, Angebot von interkulturellen Trainings für andere gesellschaftliche Akteure).
Trotz aller Herausforderungen wird der Schülerinnen- und Schüleraustausch weiter eine wichtige Rolle spielen. Dies ist nicht zuletzt auf die große Anzahl ehemaliger Austauschschülerinnen und Austauschschüler zurückzuführen – führt man die Schätzung aus 2012 fort, kann man inzwischen von knapp 400.000 ehemaligen Programmteilnehmenden ausgehen. Da viele inzwischen im Berufsleben stehen, wirkt die ursprüngliche Idee von Völkerverständigung und interkulturellem Lernen heute auf vielfältige Weise in die Gesellschaft hinein.
Literatur
AFS Interkulturelle Begegnungen e.V. (2008): Genau wie hier, nur alles anders – Kulturunterschiede entdecken. Beiheft zur Wanderausstellung. o.O.
Berliner Komitee für den internationalen Schüleraustausch (1912): Bestimmungen des Berliner Komitees für den internationalen Schüleraustausch. Jahresbericht. Berlin.
Gierlak, Maria (2001): Der Schüleraustausch zwischen Polen und Deutschland in den 1930er Jahren. Polnischer Pfadfinderverband (ZHP) und Hitlerjugend. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (ZfO) (50), S. 73–94.
Guenther, Hartmut (1975): Attitude Change in High School Students. An Investigation into the Effects of a One-Year Stay in a Foreign Culture. Dissertation. University of California, Davis.
Krüger-Potratz, Marianne (1996): Zwischen Weltfrieden und Stammesversöhnung. Ein Kapitel aus der Geschichte des internationalen Schüleraustauschs. In: Bildung und Erziehung 49 (1), S. 27–43.
weltweiser (2017): weltweiser-Studie. Schüleraustausch – High School – Auslandsjahr. Online verfügbar unter: weltweiser-Studie: Statistik, Daten und Fakten zum Schüleraustausch
Wallace, John A. (1980): Some Thoughts on Youth Exchange. In: DAAD – Deutscher Akademischer Auslandsdienst (Hg.): Research on Exchanges. Proceedings of the German-American Conference at Wissenschaftszentrum. Bonn: DAAD, S. 234–244.
Weichbrodt, Michael (2014): Ein Leben lang mobil? Langfristige Schüleraustauschprogramme und die spätere Mobilität der Teilnehmer als Element gesellschaftlicher Transnationalisierung. Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe VII, Band 13. Online verfügbar unter http://repositorium.uni-muenster.de/document/miami/6bbf1030-b310-467a-a313-63d2702abbd0/diss_weichbrodt_buchblock.pdf, letzter Zugriff am 28.06.2017.
YFU – Deutsches Youth for Understanding Komitee e.V. (2013a): Geschichte. Online verfügbar unter www.yfu.de/ueber-uns/geschichte/ursprung-und-geschichte, letzter Zugriff am 28.06.2017.
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