Erfahrungen im Schüleraustausch in Estland

Mein Schüleraustausch in Estland

Die estnische Sprache hat keine Artikel, keinen Ausdruck für die Zukunft, keine Geschlechter, aber 14 (!!) Fälle! Es wird bestimmt nicht ganz einfach, aber ich möchte sie lernen.

Ich bin Oskar, 16 Jahre alt und lebe in der weltbekannten Fachwerkstadt Quedlinburg am Harz. In meiner Freizeit engagiere ich mich ehrenamtlich bei der Bergwacht des Deutschen Roten Kreuzes im Harz. Meine liebsten Hobbys sind Klettern und Computerspiele.

Seit Sommer 2023 bin ich im Schüleraustausch in Estland. Nun, warum ausgerechnet Estland? Der ausschlaggebende Grund dürfte sein, dass ich nach einem Abenteuer gesucht habe, aber gerne in Europa bleiben wollte. Also überlegte ich, über welche Region in Europa ich am wenigsten wusste. Das führte mich zu den baltischen Staaten und schließlich habe ich mich für Estland entschieden. 

Ein weiterer Grund für mein Auslandsjahr in Estland ist die Sprache. Für mich klingt sie wirklich schön, aber gleichzeitig kommt sie mir als Deutschen sehr ungewohnt vor. In einem online Kurs habe ich bereits erste Einblicke in die estnische Sprache bekommen. Sie hat keine Artikel, keinen Ausdruck für die Zukunft, keine Geschlechter, aber 14 (!!) Fälle! Es wird bestimmt nicht ganz einfach, aber ich möchte sie lernen. Auch weil ich bin überzeugt davon bin, dass das Erlernen einer Sprache der Schlüssel ist, um die Kultur und die Menschen eines Landes wirklich zu verstehen und eine tiefere Verbindung aufzubauen. Ich habe mir auch schon estnische Musik angehört und finde sie zum Teil echt cool.

Das habe ich bisher erlebt

In meiner neuen Schule lebte ich mich nach anfänglichen Startschwierigkeiten relativ schnell ein. Anfänglich hatte ich so einige Probleme. Ich hatte z.B. keine Bücherliste bekommen und musste nun selbst herausfinden, welche Bücher und Arbeitshefte ich benötige. Oft wurden mir Kurse, die ich besuchen sollte, sehr kurzfristig mitgeteilt. Somit stand ich nicht auf der Kursliste und meine Mathelehrerin schickte mich einmal sogar wieder raus aus ihrem Kurs. Diese Startprobleme legten sich allerdings mit der Zeit und so setzte irgendwann der reguläre Schulalltag ein. Der estnische Unterricht unterscheidet sich, abgesehen von der Sprache, eigentlich kaum von dem in Deutschland. Es ist ziemlich viel Frontalunterricht, bei dem die Mitarbeit der Schüler minimal ist. Das hat für mich allerdings einen Vorteil: die Chancen, von meinen Lehrern angesprochen zu werden, war so ziemlich gering. Und das war beruhigend, weil meine Sprachkenntnisse in Estnisch immer noch nicht so gut sind. Ich kann deshalb zumindest in meiner Schule nicht so ganz nachvollziehen, warum Estland bei den PISA Studien vordere Plätze belegt. Aber ich kenne ja nur diese eine Schule und verstehe auch nach einem halben Jahr in Estland noch nicht einmal annähernd alles. 

Wie gesagt, mit der Sprache habe ich schon noch einige Schwierigkeiten. Es ist wirklich keine einfache Sprache für mich. Noch in Deutschland hatte ich einen ersten online Sprachkurs in Estnisch. Auch hier läuft für uns ein online Sprachkurs, den YFU Estland organsiert hat. Das finde ich gut, aber die Lehrerin ist mir manchmal etwas zu schnell. Im Alltag komme ich aber zurecht mit meinem Estnisch, nur in der Schule ist es immer noch nicht so einfach.

Anders als in Deutschland gibt es an estnischen Schulen für alle Kinder ein kostenloses Mittagessen. Es schmeckt nicht immer, aber da viele Kinder von weit her kommen ist das eine gute Lösung. Meine Schule hat ein sehr großes Einzugsgebiet in einem sehr ländlichen Gebiet. Sie ist hier die größte Schule im ländlichen Raum in ganz Estland. Mehr als 600 Schüler besuchen sie. Die Schüler haben teilweise weite Anfahrtswege. 

Mit gerade 2.500 Einwohner ist Kadrina, der Standort meiner Schule, nach deutschen Maßstäben ein Dorf. Aber dieses Dorf hat einiges zu bieten. Als ich das erste Mal in Kadrina war, war ich überrascht von der dort vorhandenen Infrastruktur. Während deutschen Dörfern oft nur wenig Infrastruktur haben gibt es hier vergleichsweise viele Angebote und Möglichkeiten. Es gibt es ein Schwimmbad, ein Sportcenter, 2 sehr aktive Kulturzentren sowie eine Ski Langlauf Strecke.

Außerschulisch wird einiges angeboten: es gibt Tanzgruppen in verschiedenen Stilen, wie Folklore oder Jazz, einen Chor, zahlreiche Sportangebote wie Fußball, Basketball, Volleyball, Schwimmen, Kick boxen oder Judo. Und Wintersport in alle Richtungen. 

Ungewöhnlich ist das Angebot, in der Schule zu schießen. Aber die Esten nehmen z.B. ihre Landesverteidigung sehr ernst. Am 24.02. war der estnische Unabhängigkeitstag. Er wird seit 1918 gefeiert. Ich war in Tallinn zur großen Militärparade. Ein beindruckender Anblick und vor allem ungewohnt. So etwas gibt es in Deutschland nicht. Aber man kann diese militärische Machtdemonstration auch nachvollziehen. Ich war auch schon in Narwa. Die Stadt liegt unmittelbar an der russischen Grenze. Auf russischer Seite stehen Plakate, die die Esten schon als Provokation empfinden können.

Freunde finden

Vor dem Beginn meines Auslandjahres hatte ich wirklich sehr große Sorgen, dass ich keine Freunde finden und meine Schultage und Wochenenden daher ziemlich einsam verbringen muss. Das ist jedoch zum Glück so ganz und gar nicht eingetreten. Gleich in den ersten Wochen in Estland fand ich ein paar sehr gute Freunde unter den anderen Austauschschülern. Wir unternehmen an den Wochenenden regelmäßig etwas gemeinsam. Wir machen kleine Ausflüge oder treffen uns zum Sport. Da Schüler in Estland kostenlos in öffentlichen Verkehrsmitteln fahren ist es auch ziemlich einfach, sich zu besuchen. 

YfU veranstaltet auch regelmäßig mehrtägige Treffen aller Austauschschüler. Oft in Tallinn, aber auch an anderen, meist ziemlich coolen Orten. Diese Treffen sind echte high lights meines Austauschjahres.

In meiner Klasse war es ein bisschen schwieriger Freunde zu finden. Das lag was unter anderem daran, dass ich eben die Sprache noch nicht beherrsche und deshalb weniger an Gesprächen teilnehmen konnte. Aber mit der Zeit wurde ich immer besser, so dass ich jetzt sagen kann, dass ich auch gute Freunde in meiner Klasse gefunden habe.  Das macht die Schultage nun deutlich interessanter und abwechslungsreicher.  Auch mit ihnen unternehme ich regelmäßig Sachen in meiner Freizeit, wie zum Beispiel Ski fahren oder, was natürlich bei einem guten Auslandjahr in Estland nicht fehlen darf, in die Sauna gehen. Die Esten lieben ihre Sauna. Hier wird vermutlich sogar Politik gemacht. Auf jeden Fall findet hier fast alles auch mal in der Sauna statt: Freundestreffen, Familienfeiern, Kaffee trinken, Silvester. Für mich waren diese Saunabesuche etwas ganz Neues. Ich war zuvor noch nie in einer Sauna.

Meine Gastfamilie

Meine Gastfamilie besteht aus 4 Leuten: Meiner Gastmutter Jana, meinem Gastvater Vesse und meinen beiden Gastbrüdern Lukas und Meelis. Wir leben in einem Haus das relativ abseits von der Zivilisation ungefähr 70km westlich von Tallinn liegt. Es liegt tatsächlich ziemlich einsam am Waldrand. Der nächste Nachbar wohnt ca. 500m entfernt. So etwas kenne ich aus Deutschland nicht. Ich habe schon Elche auf meinem Weg vom Schulbus nach Hause gesehen und öfter Wölfe heulen hören.

Ich gehe mit Lukas auf die gleiche Schule, er geht in die 7. Klasse und ich in die 11. Ich habe mich nach meiner Ankunft sehr schnell eingelebt und mich an den Alltag gewöhnt. An Schultagen stehe ich für gewöhnlich um 7:30 auf, um 8:10 am Bus zu sein. Die Bushaltestelle liegt ca. 2 km entfernt. Der Weg dahin führt durch den Wald. 

Der Unterricht startet für mich um 8:40 Uhr. Montags und dienstags habe ich die ersten beiden Stunden frei, also gehe ich an diesen Tagen vor der Schule ins Gym. Die Schule beginnt an diesen beiden Tagen erst um 10:35. Der Unterricht endet für gewöhnlich zwischen 14:20 Uhr und 16:10 Uhr. Je nachdem wie viele Stunden ich habe muss ich dann schauen wie ich nach Hause komme. In das Gebiet, wo ich wohne, fahren die Busse leider nur sehr unregelmäßig. Es wohnen einfach sehr wenig Menschen dort, es ist wirklich anders als in Deutschland eine echt dünn besiedelte Gegend. Zweimal in der Woche habe ich auch die Möglichkeit zum Klettertraining zu gehen. Ich nutze das allerdings nicht jede Woche nutze, da es jedes Mal eine Herausforderung ist zum Training hin und wieder zurückzukommen, da es keinen Bus von mir dorthin gibt. Im Sommer wird es hoffentlich möglich sein einfach das Fahrrad zu nehmen um zur Schule oder zum Klettern zu fahren. In den Ferien und an den Wochenenden macht meine Gastfamilie manchmal kleine Ausflüge. Einmal waren wir auch zusammen für ein paar Tage in Lettland und haben u.a. Riga besucht. Leider bin ich ausgerechnet dort krank geworden.

Über Estland

Das Erste, was ich von estnischer Kultur lernte, war ihre Vorliebe für Suppe. Ob zu Hause, auf YFU-Veranstaltungen oder in der Schule: Suppe ist allgegenwärtig. Im Allgemeinen muss ich zugeben das ich kein großer Fan von traditionellen estnischen Gerichten bin. Gerade ihren Spezialitäten wie Sülze oder Kiluvõileib (Graubrot mit ganzem Fisch und Ei) sind nicht so mein Fall. Ganz anders sieht es dagegen bei ihren Backwaren: Kringle oder Vastlakukkel sind sehr lecker und wirklich zu empfehlen. 

Sehr erwähnenswert ist der öffentliche Personennahverkehr in Estland. Er ist auf dem Land ausreichend und in der Stadt sehr gut. Vor allem aber ist es super preiswert. Tickets kosten nur etwa halb so viel wie in Deutschland und sind für Schüler und Rentner komplett kostenlos.

Das Ticketsystem und der Kauf einer Fahrkarte war am Anfang gar nicht so einfach. Es gibt keine klassischen Ticketautomaten. Alles läuft in Estland digital, die gesamte Verwaltung und eben auch der Kauf einer Fahrkarte. Man kann zum Beispiel mit dem Chip in seinem Ausweis online unterschreiben und sich so in 90% der Fälle den Weg zum Amt sparen. Klassenbücher und Hausaufgabenhefte wie in Deutschland gibt es auch nicht mehr. Sie wurden durch eine online Plattform ersetzt. 

Das Wetter und der Winter

Der Winter war lang und kalt bisher. Tiefe Minusgrade, bis -28°C, sind keine Seltenheit. Es gab sehr viel Schnee. Eine wesentliche Aufgabe im Winter hier ist Schnee schippen oder zu schieben, in jedem Fall den Weg vom Haus bis zur Straße. Von Hand oder mit Traktor.

Diese Temperaturen, die Dunkelheit und Einsamkeit meines Wohnortes im Winter sind schon manchmal gewöhnungsbedürftig. Wenn der Himmel blau ist, es kalt ist und der viele Schnee liegt kann es wunderschön sein. Auch Wintersport macht Spaß. So viel Ski gefahren bin ich mein ganzes Leben noch nicht. 

Aber wenn es taut kann es sehr schlammig werden. Der Weg durch den Wald vom Schulbus ist bei -20°C eine echte Herausforderung.

Um ehrlich zu sein freue ich mich jetzt auf das Frühjahr.

Mein Fazit:

Ich habe mich hier in Estland sehr gut eingefunden, komme super mit meiner Gastfamilie klar und habe sowohl in der Schule als auch unter den Austauschschülern Freunde gefunden. Ich hatte bis jetzt eine sehr schöne interessante Zeit in der ich viel neues erlebt und gelernt habe. 

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